Freitag, 20. Dezember 2013

bin ich noch ein Vegetarier?

Im Herbst 2011 bekam ich von einem Freund eine Henne mit 3 Küken. Wie sich Anfang 2012 herausstellte, waren darunter 2 Hähne. Die beiden Hennen brüteten im Laufe des Jahres wieder und so stand ich Anfang 2013 schließlich mit 7 Hennen und 7 Hähnen da. Und für alle war es unerträglich: die Hähne lieferten sich Rangkämpfe und waren oft verletzt und im Dauerstress, die Hennen wurden ständig bedrängt, sahen total gerupft aus und waren dementsprechend ebenfalls im Dauerstress. Es war klar, dass ich die Verantwortung für die gesamte Gruppe hatte, aber was war zu tun?

In der freien Wildbahn hätten die Hähne die Möglichkeit gehabt wegzugehen und sich ein eigenes Revier und andere Hennen zu suchen oder eine Junggesellengruppe ohne Hennen zu gründen. Als Haustier ist das aber nicht so einfach möglich. 2 Hähne konnte ich lebend weitergeben, eher ein Glücksfall, weil der eine Hühnerhalter einen neuen Hahn zur Blutauffrischung brauchte und der andere einen zweiten für seine Junghennengruppe. Ansonsten haben Hühnerhalter aber selbst ständig überzählige Hähne und kaufen nicht auch noch zusätzliche. Die nächsten 2 verschenkte ich, sie wurden geschlachtet, und ich wurde zum Essen eingeladen.

Ich bin seit über 20 Jahren Vegetarier, phasenweise auch Veganer, und nun sollte ich meine Hähne essen? Ich dachte darüber nach und versuchte herauszufinden, ob das mit meinen Überzeugungen und auch gefühlsmäßig zusammenpasste. Ja, auch wenn es mich selbst erstaunte und auch etwas irritierte, es fühlte sich richtig und stimmig an: Ich hatte sie aufwachsen sehen, sie gefüttert und großgezogen, sie hatten ein absolut freies, fast paradisiesches Leben auf den weiten Flächen rund um den Hof. Und ich hatte die Verantwortung für die gesamte Hühnergruppe, und das Zusammenleben war für alle deutlich entspannter, wenn nur wenige Hähne da waren, im Idealfall einer, und ansonsten Hennen.

Wenn ich das jedoch anderen erzähle, stoße ich immer wieder auf völliges Unverständnis und fast schon Empörung: "Was??? Du ziehst sie auf und dann isst du sie? Das ist ja wie seine Freunde oder Familienmitglieder essen. Das könnte ich nicht." Gleichzeitig bin ich dann natürlich auch kein Vegetarier mehr. Und da bin ich auch unsicher, denn tatsächlich esse ich ja jetzt wieder Fleisch, wenn auch sehr wenig und nur zu besonderen Anlässen - in diesem Jahr 3x. Rechnet man das aufs Jahr um, bin ich immer noch ein 99%-Vegetarier.

Ich vergleiche es mal mit meinem Alkoholkonsum: eigentlich trinke ich keinen Alkohol, aber zu besonderen Anlässen, kann ich durchaus mal ein Gläschen Sekt oder einen Schnaps trinken und genießen. Es ist nichts, was ich notwendigerweise zum Leben brauche, aber ich möchte selbst darüber entscheiden dürfen ohne gleich als inkonsequent oder heuchlerisch bezeichnet zu werden. Wer Fleisch isst, gerade weil er nicht weiß, wo es herkommt und weil er es nicht persönlich kennt, ignoriert, dass jedes Fleisch mal Tier war und geschlachtet wurde. Ich habe durch die Erfahrung mit der Hühnerhaltung gelernt, größere Zusammenhänge und Kreisläufe zu erkennen, und in diesem Zusammenhang ist es für mich stimmig und richtig, meine eigenen Hähne zu essen, wenn sie überhand nehmen und ich ihnen kein neues Domizil verschaffen kann.

Sicher werde ich auch in Zukunft größtenteils vegetarisch essen, besonders bei Einladungen oder im Restaurant, da ich meistens keine Ahnung habe, woher das Fleisch kommt und wie das Tier gelebt hat und weder Massentierhaltung noch Genfutter unterstützen möchte, gleichzeitig aber werde ich den eigenen "Coq au vin" als etwas Besonderes genießen und dankbar dafür sein.

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