ADHS - Wer ist hier krank
Toleranz ist ein großes Wort, es wird immer gern zitiert, um zu zeigen, in welch offener und verständnisvoller Gesellschaft wir doch leben. Toleranz gegenüber Menschen mit anderem Glauben, anderer sexueller Orientierung, anderen Ess- oder Denkgewohnheiten, kein Problem, damit stört mich der andere ja normalerweise nicht.
Hier ein paar Toleranztests:
Ein Kind, das wie ein Wirbelwind durch die Wohnung tobt, dabei Sachen umrennt oder runterreißt, keine Sekunde stillstehen kann und einen Löcher in den Bauch fragt.
Ein Kind in der Schule, das den Mund nicht halten kann, ständig dazwischenruft, mit dem Stuhl kippelt und seine Sitznachbarn vom Zuhören abhält.
Ein Jugendlicher, dessen Zimmer aussieht als hätte eine Bombe eingeschlagen, der von einem Thema zum nächsten springt, nichts zuende bringt und nur einen Haufen angefangener Projekte vorzuweisen hat.
Ein Erwachsener, der Beziehungen wechselt wie andere ihre Unterwäsche, dessen Lebenslauf aus lauter Anfängen und Abbrüchen besteht, der es nirgendwo lang aushält und der seine Kollegen mit seiner ständigen hin- und herrennerei nervt.
ADHS hat in den verschiedenen Lebensphasen viele Gesichter und doch gleichen sich die Schwierigkeiten in gewisser Weise. Immer geht es um stören und anecken, eine Nervensäge oder ein Qälgeist sein. Ich frage mich: Ist diese "Krankheit" tatsächlich ein Problem des Betroffenen selbst oder hält er den anderen nicht einen Spiegel vor? Zeigt uns die Grenzen unserer Belastbarkeit, unsere eigene Gereiztheit und Unzufriedenheit.
Auch früher gab es den Zappelphilipp, den Hansdampf in allen Gassen, den Hans-guck-in-die-Luft und wie sie damals genannt wurden. Aber sie fielen nicht auf, denn es gab genug Raum und Möglichkeiten zum Rennen und Toben, ein großes familiäres Umfeld und genug Anregung zum Spielen, Herumbasteln, Experimentieren.
Heute ist die Toleranzgrenze sehr viel früher erreicht, so dass bereits kleine Kinder mit Medikamenten ruhiggestellt werden. Gleichsam in Watte gepackt, können sie kein Gefühl dafür entwickeln, was ihnen guttut, die Möglichkeiten eigener Lösungsstrategien werden von vorneherein verbaut. Durch das negative Feedback, das sie bei anderen immer wieder mit ihrer Art auslösen, werden sie in ihrer persönlichen Entwicklung massiv zurückgeworfen und gestört.
Ein bedingungsloses Annehmen ist jedoch Grundlage für ein gesundes Urvertrauen in sich und die Welt. Wenn wir als Gesellschaft schon Kinder ausgrenzen und sie mit Medikamenten und Therapien nach unseren Vorstellungen zurechtbiegen, ist es mit unserer Toleranz nicht weit her. Jeder einzelne sollte sich daher fragen, was eigentlich bei ihm selbst nicht stimmt, denn oft verbirgt sich hinter dem Ärger auf das Kind ganz anderes, Ärger im Büro, Geldsorgen, Angst vor der Zukunft, Beziehungsprobleme etc. und das Kind oder der Erwachsene ist nur übersensibel und reagiert darauf, ein Spiegel, ein Anzeiger.
Wenn wir diesen Fingerzeig ernstnehmen und beginnen an uns selbst zu arbeiten, anstatt einen anderen zum "Patienten" zu machen, könnte irgendwann Toleranz vielleicht nicht nur ein großes Wort, sondern ein Wort für gelebtes Miteinander sein.
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